Der Liebhaber
Kurzkrimi von Aernschd Born
«Die Kirchen füllen sich nur noch, wenn einer stirbt.»
Wachmeister Erich Holzer nickte. Er sass neben Hausarzt Walter Bühlmann in der dritten Reihe. Sie lauschten dem Lebenslauf des Verstorbenen, einem alten Hobbymusiker mit dorfpolitischer Karriere, oder besser gesagt, einem Dorfpolitiker mit musikalischem Flair. Der Pfarrer verglich Politik mit Jazz und den Ton des Trompetenspiels mit dem Hauch des Lebens. Alex Schild war mit 69 Jahren allzu früh verstorben. Herzversagen.
«Herzversagen», flüsterte Bühlmann, «schwaches Herz, zwei Infarkte, drei Bypässe, trotzdem – mich hat sein plötzlicher Tod überrascht.»
«Der Tod kommt meist als Überraschungsgast», bemerkte Holzer.
Nach strafenden Blicken von der Vorderbank lauschten beide wieder den Worten des Pfarrers, der von der neuen Villa sprach, in der Alex Schild mit seiner jungen Gattin soeben heimisch geworden war, von der unglaublich grossen Sammlung an Jazzplatten, für die Schild im Westflügel eigens eine Hör-Lounge installiert hatte und wo er vor Tagen inmitten seiner Jazzmusik gestorben sei – mit Funny Valentine von Miles Davis aus dem Jahre 1964 auf dem Plattenteller.
Die Combo, die mit Alex Schild ihren Trompeter verloren hatte, spielte Monks Round about Midnight mit dem Saxsolo, dass auf den Ton demjenigen John Coltranes auf der legendären Platte von 1956 entsprach. Monika Schild, die Witwe, schluchzte leise, getröstet von einem offensichtlich guten Bekannten, den Holzer nicht kannte.
Holzer hatte beruflich kaum mit Schild zu tun gehabt. Schild war vor allem in der Kulturpolitik aktiv gewesen. Holzer hatte den Verstorbenen an mehreren Jazzveranstaltungen flüchtig getroffen und nebenbei erfahren, dass dieser das jährliche Muttenzer «Jazz uff em Platz» mit wesentlichen finanziellen Beiträgen unterstützt hatte. Auch Holzer liebte Jazz, allerdings mehr den frühen Bebop mit Dizzy Gilespie und Charlie Parker, aber Jazz ist Jazz und Musik ist Musik. Holzer schätzte das Engagement des alten Schild. Aus diesem Grund erwies er ihm heute die letzte Ehre.
Auf dem nahen Friedhof spielten die New Orleans Creole Stompers traditionelle Funerals, während der Sarg in den Boden gesenkt wurde. Erich Holzer sprach der jungen Witwe ihr Beileid aus. Dabei stand ihr Beistand, der sie schon in der Kirche getröstet hatte, und eine weitere Frau im selben Alter.
«Ich bin die Tochter», sagte sie so leise wie möglich «und ich bitte Sie: Rufen Sie mich an, möglichst bald. Ich muss mit ihnen reden. Unbedingt.»
Sie steckte ihm unauffällig ihre Visitenkarte zu und Holzer verliess den Friedhof. Es war Freitagnachmittag und Holzer war zurück in Liestal. Er wollte vor dem wohlverdienten Weekend noch einige Akten durcharbeiten, als das Telefon ihn unterbrach.
«Ich kann leider nicht warten, bis sie mich zurückrufen, Herr Holzer, ich muss Sie sprechen. Sofort.»
Holzer fischte die Visitenkarte hervor. Anne-Rose Schild, Farbberatung.
«Sprechen Sie», sagte Holzer.
«Mein Vater wurde umgebracht.»
«Ermordet?»
«Umgebracht. Seine neue Frau hat ihn auf dem Gewissen. Nehmen Sie sie fest.»
«Haben Sie Beweise für diese Anschuldigungen, Frau Schild?»
«Ich weiss es. Besuchen Sie seine Jazz-Lounge, bevor was daran geändert wurde, das wird Sie überzeugen.»
«Ihr Vater starb eines natürlichen Todes, Frau Schild, an Herzversagen, sein Arzt hat es mir bestätigt.»
«Besuchen Sie einfach seine Jazz-Lounge, Herr Holzer, das wird Sie überzeugen.»
Der Klassiker! Holzer kannte ihn jetzt schon. Reicher Rentner heiratet junge Frau. Tochter missgönnt dem Vater das Glück, und sieht sie das ungeteilte Erbe davon schwimmen.
«Lesen Sie gerne Krimis?», fragte Holzer.
«Ich hasse Krimis», sagte Schild.
Holzer verzichtete auf den Feierabend und fuhr zur Villa des Toten. Gegen 22 Uhr tauchten die Wittwe Schild und ihr Begleiter auf. Sie fuhren in die Garage und einige Minuten später gingen die Lichter der Villa an. Holzer klingelte.
«Ja?», fragte die Gegensprechanlage.
Holzer bat, eingelassen zu werden, er habe einige Fragen, die er gerne diskret stellen würde.
«Jetzt noch? So spät? Muss das sein?», fragte Frau Schild.
«Lass ihn rein», sagte der Mann, der sich danach als Dr. Pierre Ullrich vorstellte. Sie setzten sich in die weisse Ledergruppe im Entrée.
«Fragen Sie», forderte Dr. Ullrich den späten Gast auf, «wir haben nichts zu verbergen.»
«Haben Sie einen Durchsuchungsbefehl?», fragte Frau Schild.
«Monimäuschen, der Herr Wachmeister Holzer will bloss Diskretion wahren, da sind wir ihm doch dankbar dafür. Du bist jetzt einfach noch ein wenig durcheinander vom ganzen Trubel heute. Das geht doch gerade dir zu Herzen, wenn dir der eigene Mann wegstirbt, so unerwartet, ist doch klar. Frag den Wachmeister, was er wissen will und wir beantworten ihm alle Fragen, nicht wahr. Wir haben nichts zu verbergen.»
Holzer bemerkte eine verstörte verunsicherte junge Witwe und einen beflissenen Behüter, der ihr Liebhaber sein konnte, oder aber auch nur ein guter Freund in schweren Zeiten. Wie auch immer. Holzer hatte aufgehört, moralisch zu richten. Dafür sind die Kirchen da und die sterben aus, pflegte er zu sagen.
«Woran starb ihr Mann, Frau Schild, übrigens nochmals herzliches Beileid.»
«An Herzversagen, ein ganz natürlicher Tod, wenn auch völlig unerwartet», antwortete Dr. Ullrich, «es ist für uns alle ein Riesenschock, vor allem für Frau Schild.»
Frau Schild nickte und Holzer erhob sich.
«Dann danke ich Ihnen bestens für die Auskunft, entschuldigen Sie die Störung, ich finde allein hinaus.»
Dr. Ullrich bekam den Mund kaum wieder zu.
«Sie sind wegen dieser einen einzigen Frage hierher zu uns gefahren? Sonst wollen Sie nichts weiter wissen? Wir geben Ihnen gerne zu allen möglichen Fragen Auskunft, Herr Holzer. Wir zeigen Ihnen gerne auch das neue Haus, das Frau Schild und ihr unglücklicher Gatte hätten bewohnen wollen, wie gesagt, wir haben nichts zu verbergen, nicht wahr.»
«Pierre, Herr Holzer würde lieber gehen», meldete sich Monika Schild.
«Wir haben nichts zu verbergen», bekräftigte Dr. Ullrich, «komm, wir zeigen Herrn Holzer Alex‘ Jazz-Lounge, den Ort, den er so mochte – auch schon nach so kurzer Zeit in diesem Haus.»
«Pierre, bitte», versuchte Frau Schild zu protestieren, wechselte dann aber ihre Strategie.
«Nun wenn Herr Holzer die Jazz-Lounge besichtigen will…., bitte, wenn Sie mir folgen wollen...»
Sie ging voraus, vorbei am Swimming Pool durch einen Gang in den Pavillon. Die Wände des langen Ganges waren voller Gestelle, gefüllt mit Schallplatten und CDs, dazwischen hingen Fotos von Jazzgrössen und auch die Lounge war bis an die Decke bestückt mit Jazz, Jazz und nochmals Jazz. Cooljazz. Fusionjazz. Swing. Freejazz. Mitten im Raum ein einzelner bequemer Stuhl und ein Plattenspieler auf einem CD-Player. Beides Bang & Olufsen. Auf dem Plattenteller My funny Valentine.
«Hier ist er gestorben.»
Dr. Ullrich zeigte auf den Stuhl.
«Er starb allein», stellte Holzer fest.
Frau Schild nickte.
«Er war immer allein. Immer allein mit seinem Jazz.»
Schild sprach das Wort Jazz aus, als hätte sie Schneckenschleim geschluckt.
«Sie mögen keinen Jazz?», fragte Holzer.
«Doch doch», widersprach sie matt.
«Wir alle mögen Jazz», bekräftigte Dr. Ullrich, «aber der alte Alex vergötterte ihn, mehr noch, er war süchtig danach. Für ihn gab es nichts anderes als Jazz. Jazz. Jazz. Jazz. Jazz. Dabei ist Jazz auch nichts weiter als dissonantes DumZdldumZdldum.»
«Pierre, bitte.»
«Aber so ist es doch, Monimäuschen, er ging dir doch mächtig auf den Wecker mit seinem ewigen Gesumse und Gesinge und Geklopfe. Der hat dich doch gar nicht mehr wahrgenommen, der sah nur Swings und Brakes und ein Solo nach dem andern, und seine liebe Frau fand gar nicht statt in seinem Leben, sie traf wohl nicht den richtigen Ton und blies wohl die Trompete nicht so gut wie Miles Davis.»
«Pierre, bitte.»
Monika Schild kämpfte mit den Tränen.
«Frau Schild litt sehr unter der Diktatur rasender Rhythmen, Herr Holzer. Er war mit seiner Sammlung liiert, nicht mit seiner Frau. Mich hätte es nicht gewundert, wenn Moni ihren Mann erschlagen hätte in ihrer Wut.»
«Ich habe ihn aber nicht erschlagen!», schrie Monika Schild und stapfte weinend davon.
Dr. Ullrich hob bedauernd die Schultern und folgte ihr. Holzer blieb alleine zurück. Er betrachtet die Sammlung, setzte sich in den Sessel und legte My funny Valentine auf. Er lauschte dem Klang von Miles Davis gehauchter Trompete und fragte sich, warum gerade bei dieser Musik, das Herz zu schlagen aufgehört hatte. Gerade hier hätte doch der Sensenmann innehalten müssen, um den letzten Schnitt auf eine spätere Gelegenheit zu vertagen.
Holzer blieb sitzen, als die Platte zu Ende war, die gute alte Vinylplatte mit der B-Seite. Das vermisste Holzer am Meisten bei den CDs. Die B-Seiten. Die wahnsinnigste B-Seite seines Lebens war sowieso Coltranes A Love Supreme aus dem Jahr 1965. Holzer stand auf und suchte nach Coltranes Platten. Er fand sie sofort und zog das schwarzweisse Album hervor um den letzten Psalm der B-Seite aufzulegen. Leider jedoch war die Platte zerbrochen.
Schade.
Holzer legte das Album zurück und entdeckte Olé, das Stück mit Reggie Workman und Art Davis, den beiden Bassisten – aber auch diese Platte war in der Mitte in zwei Teile zerbrochen. Holzer untersuchte weitere Alben. Alle waren auseinandergebrochen und auch die CDs waren alle eindeutig böswillig beschädigt, zerkratzt, zersplittert. Holzer setzte sich und blickte auf diese einmalige Sammlung und er sah den alten Schild, wie er ein Album nach dem anderen öffnete. Er sah ihn entsetzt die halben Scheiben in den Händen halten. Gemeuchelte Musik. Sein Lebenswerk. Seine Lebensliebe. Zerstört. Sein Herz sah keinen Grund mehr, weiterhin den Takt zu schlagen ohne seinen Jazz, und es setzte an zum letzten ewigen Brake.
Dr. Ullrich kam zurück. Er habe Monika Schild Beruhigungsmittel geben müssen, sie sei untröstlich. Mit dem Zerstören seiner Sammlung habe sie doch einfach nur gehofft, dass ihr Mann anstelle seiner Musik wieder mehr sie beachten würde.
Holzer blickte auf.
«Monika Schild hat seinen Lebenssinn vernichtet. Anne-Rose Schild hatte recht», stellte er fest, «ihr Vater wurde nicht ermordet, aber er wurde umgebracht, obwohl er eines natürlichen Todes starb. Vielleicht gelang der Musikzerstörerin hier das perfekte Verbrechen. Man wird niemandem nachweisen können, dass die Zerstörung der Sammlung tödlich war für ihren Mann. Wird höchstens ein Fall sein für die Versicherung.»
«Sie haben recht, Herr Wachmeister, Moni hat die Sammlung zerstört, aber niemand ist rechtlich gesehen Schuld am Tod des Sammlers.»
«Und Sie, Herr Ullrich, bleiben Sie jetzt hier im Haus?»
«Wird wohl so sein, ja.»
«Als Liebhaber von Frau Monika Schild.»
«Nein, ich bin nicht Monis Liebhaber, aber ich haben sie auf die Idee gebracht, die Schallplatten zu zerstören, so sind ihre Fingerabdrücke drauf. Wie gesagt, wir haben nichts zu verbergen. Ich gehe davon aus, Sie werden die Spurensicherung kommen lassen, Herr Holzer. Mit ihrer abscheulichen Tat wird Monika Schild nun leider die Villa verlassen müssen. Sie hat sowieso kein Recht, zu bleiben, Gütertrennung, sie verstehen. Der Alte war clever.»
«Sie aber bleiben?»
«Klar. Ich bleibe. Nun ist die Tochter Alleinerbin und zieht hier ein. Ich bin ihr Liebhaber. Das ist vielleicht kriminell. Verboten ist es nicht.»